Übersetzung des Vortrags "Enciklopédikus tudás a 21. században",
gehalten am 15. Dezember 2003 in Budapest,
im Rahmen der Vortragsreihe Mindentudás Egyeteme ("Universität Allen Wissens").

Kristóf Nyíri:

Enzyklopädisches Wissen im 21. Jahrhundert
 
 

Der Titel meines Vortrags ist eigentlich eine Frage. Gibt es die Möglichkeit eines enzyklopädischen Wissens im 21. Jahrhundert? Ist es heute möglich, irgendwelche Gesamtheit des Wissens zu besitzen; wenn auch nicht alles, doch alles wesentliche zu wissen; wenn auch nicht auf jedem Gebiet des Wissens und insbesondere der Wissenschaft, doch wenigstens auf allen ihren grundlegenden Gebieten sich auszukennen? Die offenbare einsilbige Antwort auf diese Frage heißt: nein. Aber vielleicht haben wir die Frage falsch gestellt. Vielleicht sollten wir keine einsilbige Antwort erstreben. Vielleicht sollten wir so fragen: in welchem Maße, auf welche Weise, ist heute ein enzyklopädisches Wissen möglich? Das Wissen – dies möchte ich gegen Ende meines Vortrags noch erörtern – ist in erster Linie praktisch, und nur in zweiter Linie theoretisch. Wissen bedeutet wissen wie, d. h. können: etwas zu finden, zu Ende zu führen, zustandezubringen, zu lösen. Die Theorie ist eines der Instrumente des Handelns, der Praxis, ähnlich wie unsere anderen Instrumente, Werkzeuge, Geräte. Das Gros unseres Wissens ist in unseren Instrumenten verkörpert; und in manchen unserer Instrumente – man denke etwa an eine aufwendige Software, oder gar an das Mobiltelefon – schlägt sich ein besonders vielfältiges Wissen von besonders vielen Fachleuten nieder – von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Informatikern, Psychologen. Könnte es der Fall sein, daß die Instrumente unseres Zeitalters Träger eines enzyklopädischen Wissens sind? Und, um zu der ursprünglichen Frage zurückzukehren: inwiefern kommt unser theoretisches Wissen heute dem Ideal des Enzyklopädismus nahe?
 

I. DER BEGRIFF DES ENZYKLOPÄDISMUS

Der Ausdruck "Enzyklopädie" geht auf die antike Verknüpfung der griechischen Wörter enkyklios – Vollkreis – und paideia – Bildung – zurück. Auf die latinisierte Form – "encyclopaedia" – trifft man zuerst bei Quintilian im 1. Jahrhundert, und zur gleichen Zeit wurde der erste Klassiker des Genre, die Naturgeschichte von Plinius dem Älteren geschrieben. Als Buchtitel wurde das Wort "Enzyklopädie" vor dem 16. Jahrhundert nicht verwendet; das Riesenwerk des Isidor von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert trägt den Titel Etymologien, die um 1250 beendete berühmte Arbeit von  Vincent de Beauvais heißt Der größere Spiegel. Im hohen Mittelalter, in der Glanzzeit der Enzyklopädien, schien eine volle Sammlung des Wissens kein unmöglicher Traum zu sein. Die Welt ist, in der Auffassung des Mittelalters, der Spiegel der Gedanken Gottes; Gott hat uns mit zwei Büchern beschenkt, mit der Bibel und mit dem Buch der Natur selbst; die Enzyklopädien erstrebten eine Zusammenfassung der Wahrheiten von diesen beiden Büchern. Als Ordnungsprinzip der Naturerscheinungen konnten etwa die sieben Tage der Schöpfung oder die fünf Wunden Christi dienen. Gleichzeitig wirkte seit der Spätantike auch eine den sieben freien Künsten – Grammatik, Rhetorik, Musik, Arithmetik, Dialektik, Geometrie, Astronomie – entsprechende Systematisierung fort. Letzterer Einteilung folgte etwa das Kompendium Margarita Philosophica ("Die philosophische Perle") des Gregor Reisch, welches zwischen 1496 und 1599 insgesamt 11 Ausgaben erlebte.

Das ständige Anwachsen des Wissens wirkte seit der Frühmoderne immer stärker gegen den Enzyklopädie-Gedanken. Vielleicht eben als ein Rückzugsgefecht dieses Gedankens tauchte das Wort "Enzyklopädie" nunmehr auch in Buchtiteln auf. So in Alsteds 1630 erschienener, noch auf lateinisch verfaßter Enzyklopädie, welche außer den freien Künsten auch Theologie, Recht und Medizin behandelte, ferner die Mechanik, sowie solche – damals als naturphilosophisch bezeichneten – Themen, wie die Optik. Das Ziel der Enzyklopädie charakterisierte Alsted folgendermaßen: "das methodische Verständnis all dessen, was der Mensch im Laufe seines Lebens lernen muß". Alsted übersiedelte 1629 aus Herborn nach Gyulafehérvár (Weißburg oder Karlsburg) in Siebenbürgen, wo er 1638 verstarb; und nach Gyulafehérvár kehrte zurück 1652 jener János Apáczai Csere, der gerade in Alsteds Fußstapfen tretend 1653 sein Werk Magyar Encyclopaedia, azaz minden igaz és hasznos bölcsességnek szép rendbe foglalása és magyar nyelven világra bocsátása herausgab. Der Titel auf deutsch lautet etwa: "Ungarische Enzyklopädie, also alle wahren und nützlichen Weisheiten in schöne Ordnung gefaßt und auf ungarische Sprache in die Welt geschickt".

Sowohl die Arbeit Alsteds als auch jene Apáczais widerspiegeln die Überzeugung, daß sich das enzyklopädische Wissen, wenn auch mit großer Anstrengung, immerhin vereinigen läßt in einem einzigen Geist. Diese Überzeugung durchwirkt auch die beiden berühmten englischen Enzyklopädien der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das 1704 erschienene Lexicon Technicum des John Harris, und die von Ephraim Chambers verfaßte, 1728 verlegte Cyclopaedia. Anders als die früheren Enzyklopädien waren die Zusammenstellungen von Harris und Chambers bereits aus alphabetisch geordneten Stichwörtern aufgebaut, was einerseits dem Leser eine leichtere Orientierung ermöglichte, andererseits den Autor von der Last befreite, eine im strengen Sinne des Wortes zusammenhängende wissenschaftliche Weltsicht besitzen zu müssen, wobei er natürlich durchaus irgendwelche Karte der Anordnung der Wissensgebiete aufzeichnen und dem Werk beilegen konnte. Ich erlaube mir hier eine Passage aus Richard Yeos ausgezeichnetem Buch Encyclopaedic Visions anzuführen: "In seeking to abridge, condense and summarize", schreibt Yeo, "scientific dictionaries reflected respected educational notions about the value of rounded learning and the unity of the sciences. Moreover, they had not yet abandoned the hope of keeping individuals within reach of knowledge that could be visualized in graphic form and thus understood as part of an ordered whole, one that could be feasibly grasped by great scholars. For this reason they did not so decisively shatter the possibility of an encyclopaedic mind as their successors did. And although the final chapter of this book shows how some of these convictions began to fade, it may be that this history holds lessons for our new age of information."1

Die ab 1751 erscheinende, von Diderot und d'Alembert herausgegebene Encyclopédie2,  die man heute als die Große Französische Enzyklopädie zu bezeichnen pflegt, wurde ursprünglich als eine Übersetzung der Chambers'schen Cyclopaedia geplant, öffnete aber schließlich ein radikal neues Kapitel in der Geschichte der Lexika. Ich verwende hier bewußt das Wort "Lexikon" statt "Enzyklopädie", denn diese 17 Bände Text und 11 Bände Illustrationen enthaltende, von unzähligen Mitarbeitern verfaßte Zusammenstellung konnte offenbar nicht mehr damit rechnen, vom Leser als ein zusammenhängendes Ganzes verinnerlicht zu werden. In seiner einleitenden Studie zur Encyclopédie hatte d'Alembert die Idee einer definitiven Synthese der Wissenschaften dann auch ausdrücklich verworfen. Die einzelnen Gebiete, schreibt er, werden gleichsam durch Spezialkarten dargestellt; und obwohl auch gleichsam Weltkarten gezeichnet werden können, können diese keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit haben: sind doch verschiedene Projektionen möglich, zwischen denen die Wahl eine Frage des Geschmacks und der aufgabebedingten Zweckmäßigkeit ist. Eine solche Übersichtskarte – ein Baumdiagramm – legt auch d'Alembert seiner Studie bei. In einem späteren Ergänzungsband erscheint das Diagramm bereits als eine prachtvolle Zeichnung, mit Baumstamm und Blättern. Die Pracht der Zeichnung kann indessen nicht über die ernüchternde Botschaft hinwegtäuschen: die in der Welt der neuzeitlichen Wissensexplosion nunmehr notwendigerweise von vielen Autoren verfertigten und allein durch das Alphabet geordneten Stichwörter summieren sich nicht zu einem übersichtlichen, begehbaren Wissensganzen. Es ist kennzeichnend, daß die ab 1768 erscheinende Encyclopaedia Britannica bereits jegliche Klassifikation der Wissenschaften meidet, keine Karte des Wissens bietet, und ihre die einzelnen Wissenschaften gesondert abhandelnden Traktate nur noch gelegentlich Querverweise enthalten.
 

II. ALLWISSEN IN EINEM EINZIGEN GEIST?

Die Zeitspanne vom 18. Jahrhundert bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stand im Zeichen einer fortschreitenden Fragmentierung, Absonderung und Spezialisierung der Wissenschaften. Doch ständig wirkten, und in den letzten Jahrzehnten verstärkten sich, auch die wiedervereinigenden großen Theorien und die in die Richtung einer Zusammenarbeit zwischen den Teildisziplinen weisenden Tendenzen. Auf diese Tendenzen wurde in den Vorträgen im Verlauf der bisherigen drei Semester der Universität Allen Wissens immer wieder hingewiesen. In seinem im Oktober 2002 gehaltenen Vortrag erinnerte Norbert Kroó daran, daß die Wissenschaft von je her ein mehr oder weniger einheitliches Ganzes bildete, erst vor etwa 150–200 Jahren sich die Physik und die Chemie voneinander trennten und sich anschließend die Lebenswissenschaften absonderten; heute aber, mit dem Erscheinen der physischen Chemie, Geophysik, Biophysik und der molekulären Biologie, welche Gebiete sich auf die Prinzipien und Methoden der Physik gründen, neue Synthesen zustandekommen. Kroó drückte sich dahingehend aus, daß "die Wissenschaft der Physik der grundlegendste, umfassendste Versuch der Naturbeschreibung ist" und daß "seit Anfang des 20. Jahrhunderts ... die Physik zur Grundlage der anderen Naturwissenschaften geworden ist". Eine Zwischenbemerkung: Dieser Umstand führte ab den 1930-er Jahren zu dem Standpunkt des sog. Physikalismus und unter der Führung von Otto Neurath zum – damals noch verfrühten – Programm einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft. Vor einigen Wochen kam Zalán Horváth auf den Gedanken zurück, daß das vorrangige Ziel der Physik eben darin besteht, "die wunderbare Vielfältigkeit der Natur auf eine einheitliche Weise zu verstehen". Wie Zalán Horváth aufführte, "ist in der Vergangenheit jeder große Vorstoß ein neuer Schritt in die Richtung dieses Ziels gewesen: die Vereinigung der Himmelsmechanik und der irdischen Mechanik durch Newton im 17. Jahrhundert; die von Maxwell ausgearbeitete Theorie der Elektrizität und Magnetismus im 19. Jahrhundert; die Vereinigung der Raumzeitgeometrie und der Gravitationstheorie durch Einstein zwischen 1905 und 1916; das Verstehen der Chemie und der Atomphysik durch die Entwicklung der Quantenmechanik in den 1920-er Jahren". Der nächste Schritt in die Richtung einer weiteren Vereinheitlichung, "einer über alles stehenden, die ganze Natur beschreibenden Theorie, einer Theorie des Alls und des 'Allwissens'" wäre das sog. Standardmodell der Teilchenphysik, welches "die elektromagnetischen und die schwachen Wechselwirkungen vereinigt ... und auf ähnliche Weise die starken Wechselwirkungen beschreibt". Worin ich hier als Laie mir unsicher bin: Würde wohl der endgültige Erfolg des Standardmodells in der Tat das Zustandekommen einer solchen Theorie bedeuten, welche zu einem weiten, und dennoch in einem einzigen Geiste zusammenschließbaren Wissen führt, oder aber – auch für den noch so ausgebildeten Geist – eine bloß prinzipielle Garantie der Möglichkeit eines einheitlichen Wissens? Jene Formulierung Zalán Horváths, laut der die theoretische Aufarbeitung der experimentellen Grundlagen des Standardmodells eine "wahnsinnige Aufgabe" sei, dürfte jedenfalls Bedenken erwecken.

In seinem im vergangenen September gehaltenen Vortrag erwähnte György Jaksity gleich zwei Theorien durchaus interdisziplinärer Verheißung: die Fraktaltheorie des Benoit Mandelbrot und die Theorie der sogenannten skalenfreien Netzwerke von Albert-László Barabási. Mandelbrot war unlängst kurz in Ungarn zu Besuch und gab eine Reihe von glänzenden, allgemeinverständlichen Interviews. In einem erinnert er sich an die Professoren seiner Universitätsjahre, die "alle nur in je einem Wissenschaftszweig sich wirklich gut auskannten. Ich aber", sagte Mandelbrot, "interessierte mich für alles; die Fraktaltheorie – die mich bereits damals beschäftigte –  ist fast mit allem verknüpft, von der Mathematik über die Physik und Wirtschaftswissenschaft bis zu der Kunst". Fraktale sind selbstähnliche Objekte, die bei allen Vergrößerungen bzw. Verkleinerungen gleichsam in sich selbst übergehen und mit deren Hilfe zahllose Naturgebilde – Bäume, Schneeflocken, Wolken, die Lunge, das Kreislaufsystem – sowie gesellschaftliche Erscheinungen beschreibbar sind. Das Wesentliche der Fraktaltheorie läßt sich gut durch Bilder, auf visueller Grundlage, erklären; doch die anspruchsvolleren Anwendungen erfordern freilich mathematische Tiefen. Ähnliches läßt sich in bezug auf Barabásis Netzwerktheorie sagen. Skalenfreie Netzwerke bestehen aus vielen Knotenpunkten mit wenigen Verbindungen, und aus einigen wenigen Knotenpunkten mit vielen Verbindungen in alle Richtungen. Die Theorie der skalenfreien Netzwerke läßt sich auf vielen Gebieten anwenden, von der Analyse der Bekanntenbeziehungen über die Erklärung der Eigenarten des Internets bis zu der Planung einer wirksamen Aktion gegen AIDS. Skalenfreie Netzwerke sind gerade nicht selbstähnlich, ihre Theorie ist also fast eine Ergänzung der Fraktaltheorie, und diese beiden Theorien decken zusammen einen ziemlich großen Kreis der Erscheinungen ab. Doch auch in der Theorie der skalenfreien Netzwerke ist ein Sichbewegen nur scheinbar leicht; Forschung und Anwendung können auch hier nicht auf tiefe mathematische und physische Kenntnisse verzichten.

Umfassende, disziplinübergreifende Theorien ermöglichen eine verhältnismäßig sinnvollere Sicht auf verhältnismäßig größere Gebiete der Wissenschaft sowohl dem auf diesen Gebieten arbeitenden Fachmann als auch dem interessierten Laien. Indessen ändert nicht einmal das Zustandekommen solcher Theorien daran, daß selbst Wissenschaftler, die über einen besonders weiten Horizont verfügen, nur in einigen ganz begrenzten Wissenschaftszweigen tatsächlich bewandert sein bzw. bleiben können; die Experimente, Publikationen, Anwendungsvorschläge nur einiger ganz begrenzten Wissenschaftszweigen wirklich verstehen und beurteilen können. Warum ist das so? Es wird uns doch immer wieder gesagt, daß die Speicherkapazität des menschlichen Gehirns fast unbeschränkt sei. Zuletzt habe ich das in einem Interview gelesen mit Tamás Freund, dem Direktor des Instituts für Experimentelle Medizin der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Doch Freund spricht dort auch von einem Kapazitätsmangel, und löst den scheinbaren Widerspruch durch die Beobachtung auf, daß "zum wirksamen Lernen die Information mit emotionellen und Motivationsimpulsen verknüpft gespeichert werden muß". Emotionelle Impulse? Dieser Hinweis kann uns etwa an Damasios Buch3  über Rationalität und Gefühl erinnern; aber auch an die Auffassung, daß der Mensch zuerst ein geselliges und nur zweitens ein erkennendes Wesen ist; d. h. an die Theorie des "sozialen Gehirns" des Evolutionspsychologen Robin Dunbar. Diese Theorie kurz zusammengefaßt:

Primaten haben verglichen mit allen anderen Wirbeltieren ein im Verhältnis zu ihrer Körpergröße ungewöhnlich großes Gehirn – des näheren einen ungewöhnlich großen Neokortex –, was damit zu erklären ist, daß die Primaten eine hochgradig soziale Lebensweise entwickelt haben. Die sorgfältige Pflege der Beziehungen, die ihre sozialen Gruppen zusammenhielten, war so wichtig, daß sie entsprechende Kapazitäten für die Verarbeitung von Informationen schaffen mußten, um hinsichtlich der sich ständig verändernden sozialen Beziehungen auf dem laufenden zu bleiben und eben diese Informationen nutzen zu können, um sich im komplexen sozialen Leben der Primatengruppen zurechtzufinden. Folgerung: die hervorragende Intelligenz des Homo sapiens ist grundlegend eine soziale Intelligenz, die zur kognitiven Aufarbeitung der geselligen Beziehungen dient. In welchem Maß können diese Beziehungen ausgedehnt sein? Eine Berechnung aufgrund des Umfangs des menschlichen Neokortex läßt Dunbar die These aufstellen, daß die Anzahl der Menschen, zu denen man noch direkte persönliche Beziehungen haben kann, etwa 150 ist; innerhalb dieser Gruppe gibt es höchstens etwa 5 Personen, zu denen eine besonders starke Beziehung besteht. Diese These ließe sich aus der Sicht unseres jetzigen Gedankenganges vielleicht folgendermaßen umformulieren: wir sind höchstens von etwa 5 solchen Personen umgeben, deren Denkart wir tief und von innen kennen. Mit anderen Worten: wir können etwa 5 bekannte Denkarten geistig meistern. Im Eröffnungsvortrag der Veranstaltungsreihe Universität Allen Wissens, im September 2002, stellte Szilveszter E. Vizi jene Einsicht in den Mittelpunkt seines Gedankenganges, daß jeder Mensch einmalig, wirklich und wahrlich einmalig ist. Man kann behaupten, daß jeder Mensch eine besondere Welt ist: und unsere kognitiven Fähigkeiten reichen aus, uns gleichzeitig in etwa 5 solchen Welten auszukennen.

Zurückkehrend zum Thema des theoretischen Erkennens: als philosophische Hypothese, also als eine neue Sichtart bietende, sehr allgemeine Hypothese läßt sich vielleicht aussagen, daß ein Mensch gleichzeitig (d. h. innerhalb einer gewissen Zeitspanne – und ich denke hier an eine Zeitspanne von mehreren Jahren) höchstens etwa 5 bekannte Denkarten aufnehmen kann. Man kann höchstens 5 Sprachen meistern – die meisten von uns nicht einmal so viele. Man kann sich höchstens 5 "wissenschaftliche Dialekte" aneignen. András Patkós sagte an der Universität Allen Wissens jetzt im Oktober, daß "der Astronom, der Astrophysiker, der Kosmologe ... sind etwas abweichende 'Dialekte' sprechende Mitglieder desselben wissenschaftlichen Geschlechtes". Laut meiner Hypothese kann kaum ein wissenschaftliches Geschlecht Träger von mehr als 5 Dialekten sein. Oder anders: Es ist kaum vorstellbar, daß selbst ein über den weitesten Horizont verfügender Wissenschaftler in mehr als 5 wissenschaftlichen Paradigmen denken könnte.

Wir sind also erneut zur Einsicht gelangt, daß enzyklopädisches theoretisches Wissen, im 21. Jahrhundert, in einem einzigen Geist auf keinen Fall möglich sei. Ist aber wohl ein solches Wissen möglich – außerhalb des Geistes? Die Frage bedarf einer Erklärung. Zur Erklärung wenden wir uns wieder zur Evolutionspsychologie, nämlich zur Arbeit jenes Merlin Donalds, auf welchen auch Csaba Pléh hingewiesen hat in seinem an der Universität Allen Wissens im September 2002 gehaltenen Vortrag. Donald postuliert einen in den vergangenen Jahrtausenden, nach dem Abschluß der biologischen Evolution des Homo sapiens sich ereignenden, nicht-biologischen evolutionären Übergang, der im Entstehen eines externen Gedächtnisses bestand: im Erscheinen der gezeichneten-gemalten Bilder, der Bilderschrift und schließlich der alphabetischen Schrift. Der überwiegende Teil des menschlichen Wissens wird laut Donald eben nicht im Gehirn, sondern durch extern-physische symbolische Systeme gespeichert: zunächst durch Höhlenzeichnungen, dann durch Piktogramme und später durch die Buchstabenschrift. Donalds Gedankengang fortführend: das enzyklopädische Wissen des Mittelalters und der Neuzeit wurde in erster Linie von Büchern, und nur in einem übertragenen Sinne von einzelnen Köpfen getragen; und ab Mitte des 18. Jahrhunderts kann kaum angenommen werden, daß das in den sich ständig umfangreicher gestaltenden Lexika enthaltene immer riesigere Wissen an sich "enzyklopädisch", d. h. allseitig und zusammenhängend gewesen wäre, wurde doch keinerlei Versuch mehr gewagt, die Gesamtheit und die inneren Verknüpfungen jenes Materials in irgendeinem Übersichtsplan zu erfassen. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wird die Funktion des externen menschlichen Gedächtnisses zunehmend von einem neuen Medium – vom digitalen Weltnetz – übernommen. Ist wohl dieses Medium dazu geeignet, Träger eines enzyklopädischen Wissens zu sein?
 

III. VERNETZTE ENZYKLOPÄDIEN

Wir alle kennen und benützen täglich das World Wide Web. Es enthält ein faszinierend reiches Material, wobei Dokumente in ungarischer Sprache freilich nur einen verschwindenden Bruchteil dessen bilden. Doch wer mit dem Englischen fertig wird, der wird durch die verschiedenen Portale, oder mit Hilfe von Suchprogrammen, meistens gar manche Dokumente finden, die seinem augenblicklichen Interesse teilweise oder sogar ganz entsprechen. Und die einzelnen Dokumente weisen im allgemeinen freilich auch über sich hinaus: die links führen zu anderen, inhaltlich verwandten Stellen. Den links folgend läßt sich ein riesiger Rundgang machen – keineswegs können wir aber das gesamte Gebiet des Wissens begehen. Von einem gegebenen Dokument ausgehend ist im Prinzip etwa ein Viertel der sich im Weltnetz befindenden Dokumente erreichbar. Und könnten wir alle Dokumente erreichen, auch dann würden wir bloß einen Bruchteil dessen antreffen, was die Menschheit während ihrer Geschichte an Schriften, Bildern und Tönen angesammelt hat. Das Weltnetz ist keine Weltenzyklopädie. Allerdings sind im Netz bekanntlich gar manche herkömmliche, sich als Enzyklopädien bezeichnende Lexika vorfindbar, sowie auch eigens für das Netz entwickelte Lexika. Ein Beispiel für die erste Art ist etwa die 1911-er Ausgabe der Encyclopeadia Britannica; das interessanteste Beispiel für die zweite Art ist die Wikipedia – ein großangelegtes, von den Benützern gebautes ("bottom-up") Lexikon, und ein Beispiel ist auch freilich die Encyclopaedia Britannica Online, die einen faszinierenden Inhalt bietet – wenn auch nicht kostenfrei, doch zu einem erträglichen Preis.

In ungarischer Sprache sind unter der Webadresse www.enc.hu seit dem 13. November 2003 die ersten Stichwörter jener virtuellen Enzyklopädie zugänglich, deren Aufbau, im Rahmen einer Zusammenarbeit des Ministeriums für Informatik und Kommunikation und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, vom Forschungsinstitut für Philosophie der Akademie koordiniert wird. Wir erstreben die Erstellung einer Enzyklopädie im herkömmlichen Sinne – wobei wir keine detaillierte Vorstellung haben bzw. haben könnten von den heutigen systematischen Zusammenhängen, Konvergenzen oder Divergenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, Subdisziplinen, Themen und Probleme. Am Anfang stehen einige – gleichsam zufällig generierte – Stichwörter: "ungarisch", "virtuell", "Enzyklopädie", "Wissenschaft", "Philosophie". Unter Mitwirkung von Hunderten von Repräsentanten aus etwa sechzig Disziplinen sind weitere zahlreiche Stichwörter im Begriff ausgearbeitet zu werden, und in jedem Stichwort gibt der Autor selbst jene Ausdrücke/Wendungen an, zu denen er andere Stichwörter zugeordnet sehen möchte. Die aktiven Verknüpfungen zwischen den bereits ins Netz gestellten Stichwörtern werden von einer eigens für diesen Zweck entwickelten Software registriert und – mit Hilfe von ziemlich aufwendigen mathematischen Instrumenten im Hintergrund – grafisch dargestellt. D. h. es sind die Stichwörter selbst, die von Anfang an ihre Umgebung bestimmen; und die Software für grafische Darstellung zeichnet die Übersichtskarte des Wissens immer wieder neu. Das Ziel der Ungarischen Virtuellen Enzyklopädie ist wissenschaftliche Popularisierung, von der Gesamtheit des Wissens kann hier auch im Idealfall nur aus der Satellitenperspektive ein Bild gegeben werden; zugleich ist aber diese Enzyklopädie ein wissenschaftsphilosophisches Experiment, in dessen Verlauf wir – beklemmt und aufgeregt – auf jene Frage Antwort erwarten, ob es denn jenen Vollkreis des Wissens überhaupt gibt; inwieweit sich zwischen den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft heute Übergänge feststellen lassen; in welchem Maß die Wissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einzelne Disziplinen zersplittert, oder eben in welchem Maß dieselbe ein Ganzes ist?

Die Stichwörter der sich im Aufbau befindenden Enzyklopädie stehen in vielfachen hypermedialen Beziehungen miteinander und mit anderen Teilen des Weltnetzes. Der Reichtum und die Komplexität der Inhalte soll durch den Reichtum an Verknüpfungen vermittelt werden: die Stichwörter selbst sind von ganz kleinem Umfang, auf einen Blick überschaubar – kein Stichwort soll den Rahmen eines einzigen Bildschirmes überschreiten. Als Ideal schweben uns ein solcher Umfang und eine solche Redigierungsart vor, die die Enzyklopädie auch mittels mobilen Geräten – Handheld-Geräten – erreichbar machen. Dem möchte ich noch hinzufügen, daß wir nicht bloß Texte, sondern auch Bilder und Animationen enthaltende multimediale Dokumente schaffen. Der Integration von Wort und Bild widmen wir besondere Aufmerksamkeit. Denn das wirkliche Wissen, wie ich darauf bereits hinwies und es weiter unten noch näher erläutern werde, ist in erster Linie ein praktisches Wissen; das praktische Wissen läßt sich indessen, wie dies leicht einzusehen ist, viel schwieriger mit bloßen Worten vermitteln, als mit einem Ensemble von Wörtern und Bildern.
 

IV. DER INHALT DES WORTES IST DAS BILD

In seiner Naturgeschichte, auf die ich eingangs als den Klassiker des Genres Enzyklopädie hingewiesen habe, erzählt Plinius der Ältere in einigen durchaus lehrreichen Passagen von der gänzlichen Niete der griechischen Botanik als Wissenschaft. Die griechischen Botaniker, berichtet Plinius, "erkannten, daß zur Verständlichkeit ihrer Beschreibungen auch Illustrationen nötig sind. Also versuchten sie Bilder zu verwenden, diese konnten sie aber nur mit solchen Methoden herstellen, die ungeeignet waren zur vollen und genauen Wiederholung von visuellen Tatsachen. Die aufeinanderfolgenden Kopisten brachten schließlich solche Entstellungen zustande, die der Beleuchtung und Präzisierung der verbalen Mitteilung nicht nur nicht zugute kamen, sondern hinderlich waren." Mit Bildern kamen sie nicht weiter, aber mit bloßen Wörtern auch nicht; die griechische Botanik brach zusammen. – Plinius zitiere ich hier anhand des glänzenden Buchs von William Ivins, Prints and Visual Communication; und bleiben wir noch für eine Minute in der Gesellschaft von Ivins. Die Technik des Bilderdruckes wurde um 1400 erfunden. Laut Ivins war diese Erfindung ein viel revolutionäreres Ereignis in der Geschichte der Kommunikation als die Erfindung des Buchdrucks ein halbes Jahrhundert später. Bilder wurden mehr oder weniger genau reproduzierbar. Allerdings waren sie noch weit davon entfernt, getreue Abbildungen von gegebenen Naturgegenständen zu sein. Der sogenannte Pseudo-Apuleius, 1483 in Rom herausgegeben, ist die gedruckte Version eines botanischen Manuskripts aus dem neunten Jahrhundert, die Illustrationen wurden nach den im Manuskript enthaltenen Zeichnungen angefertigt und sind selbstverständlich zu jeglicher Pflanzenidentifizierung ungeeignet. Demgegenüber legte der Autor des 1485 in Mainz erschienenen Gart der Gesundheit, wie Ivins hervorhebt, bereits Wert darauf, daß dessen Bilder von einem erstklassigen Meister und nach der Natur gezeichnet wurden. Allerdings konnten weder Holzschnitte noch Stiche oder Radierungen ganz originalgetreu sein. Ivins weist darauf hin, daß Lessing, als er seinen berühmten Aufsatz über die Laokoon-Gruppe schrieb, keine verläßlichen Illustrationen zur Verfügung haben konnte. Bis zum Zeitalter der Photographie, betont Ivins, gab es keine Technologie zur genau wiederholbaren bildlichen Repräsentation einzelner Gegenstände. Und dem sollten wir hier hinzufügen: vor der Ankunft der Computergrafik gab es keine Technologie, die geeignet gewesen wäre, einerseits die vermittelte – also nicht-persönliche – Kommunikation und andererseits unsere innere geistige Welt einander anzunähern.

Denn das menschliche Denken spielt sich uranfänglich nicht in wortsprachlicher Form, sondern im Medium von mentalen Bildern ab. Zu eben dieser herkömmlichen Auffassung scheint doch die Wissenschaft heute allmählich zurückzukehren. Und wieder einmal überzeugend mutet auch die Hypothese an, der zufolge im Laufe der menschlichen Stammesentwicklung und Ontogenese zuerst nicht die Wortsprache, sondern die Sprache der Gesten eine begriffliche Ordnung in die episodische Bildhaftigkeit des vorsprachlichen Denkens bringt. Diese Hypothese vertrat József Hámori, in seinem Vortrag an der Universität Allen Wissens im Oktober 2002, wie auch – auf Merlin Donalds Begriff einer "mimetischen Kultur" hinweisend – Csaba Pléh, in seinem bereits angeführten Vortrag. Die Ebene der Wortsprache ist nicht so sehr die Grundlage des Denkens, sondern vielmehr nur ein abstrakterer Schauplatz desselben. Das kreative Denken, das zugleich immer Zusammenhänge erblickendes Denken ist, ist typisch bildhaft. Ich erlaube mir hier Albert Einsteins Bericht zu zitieren: "The words or the language, as they are written or spoken, do not seem to play any role in my mechanism of thought. The physical entities which seem to serve as elements in thought are certain signs and more or less clear images which can be 'voluntarily' reproduced and combined. … – … Taken from a psychological viewpoint, this combinatory play seems to be the essential feature in productive thought – before there is any connection with logical construction in words or other kinds of signs which can be communicated to others. – The above-mentioned elements are, in any case, of visual and some of muscular type."

Es ist ja nicht von ungefähr, daß in seinen Erklärungen Einstein so oft die Methode der bildhaft darstellbaren Gedankenexperimente verwandte. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Visualisation besteht einerseits eben darin, daß sie sich zur Vermittlung von neuen Gedanken solcher Mittel bedient, die auch im Entstehen jener Gedanken eine Hauptrolle gespielt haben. Andererseits freilich darin, daß sie in eine anderswie undeutbare Menge von Daten Ordnung bringen kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Meteorologie, die – wie Károly Vissy in seinem an der Universität Allen Wissens im Mai 2003 gehaltenen Vortrag zeigte – gerade dadurch zu ihren wichtigsten Entdeckungen kam, daß sie die durch gleichen Parameter gekennzeichneten Punkte der auf die Karte gesetzten Daten mit Linien verband: die unsichtbaren Zusammenhänge wurden sichtbar.
 

V. DER INHALT DER THEORIE IST DIE PRAXIS

Das Beispiel der Meteorologie illustriert besonders glücklich jenen Gedanken, den ich in den Mittelpunkt meines Vortrages zu stellen versuche: daß nämlich das Fundament und die Spitze, die Quelle und das Ziel des theoretischen Wissens eben das praktische Wissen ist. Es ist lehrreich, daran zu erinnern, daß etwa das ungarische Wort tud ("wissen") sich in seiner ursprünglich-uralten Bedeutung auf durchaus praktisches Tun bezieht: auf berühren, tasten. Ähnlich beziehen sich die Wörter ért, felfog ("verstehen", "begreifen") auf berühren, anfassen, greifen.4  Die Entdeckung – oder Neuentdeckung – der zutiefst praktischen Natur des Wissens ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, die gemeinsame Botschaft von Wittgenstein und Heidegger, die Hauptthese von Gilbert Ryles 1949 erschienenem, berühmtem The Concept of Mind. Ryle unterscheidet den Begriff des knowing that, "wissen, daß", von dem des knowing how, "wissen wie", das Tatsachenwissen von dem Tunkönnen, und kommt zum Schluß, daß sich das "wissen, daß" im "wissen wie" auflöst. In Ryles schneidender Formulierung: "Theoretisieren ist eine Praxis unter anderen".

Ich habe bereits auf Otto Neuraths Programm einer sog. Enzyklopädie der Einheitswissenschaft hingewiesen. In dessen Rahmen wurde 1938 der erste Band der Reihe International Encyclopedia of Unified Science veröffentlicht, welcher auch einen Aufsatz des prominenten amerikanischen Philosophen John Dewey enthielt. Dem Schluß meines Vortrages nähernd, erlauben Sie mir aus diesem Aufsatz zwei längere Abschnitte zu zitieren. Wie Dewey also schreibt: " the scientific method is not confined to those who are scientists. The body of knowledge and ideas which is the product of the work of the latter is the fruit of a method which is followed by the wider body of persons who deal intelligently and openly with the objects and energies of the common environment. In its specialized sense, science is an elaboration, often a highly technical one, of everyday operations. In spite of the technicality of its language and procedures, its genuine meaning can be understood only if its connection with attitudes and procedures which are capable of being used by all persons who act intelligently is borne in mind." Und einige Zeilen später heißt es: "Few would rule engineers from out the scientific domain, and those few would rest their case upon a highly dubious distinction between something called 'pure' science and something else called 'applied' science. ... Pure science does not apply itself automatically; application takes place through use of methods which it is arbitrary to distinguish from those employed in the laboratory or the observatory. And if the engineer is mentioned, it is because, once he is admitted, we cannot exclude the farmer, the mechanic, and the chauffeur, as far as these men do what they have to do with intelligent choice of means and with intelligent adaptation of means to ends, instead of in dependence upon routine and guesswork."

In seinem bereits angeführten Vortrag drückte sich Norbert Kroó dahingehend aus, daß in der Physik zu Ende des 20. Jahrhunderts "das Schaffen von Instrumenten zur bestimmenden Forschungsaufgabe geworden ist", und daß der Schwerpunkt der Forschung sich vom Erschließen der Grundgesetze auf deren praktische Anwendung verlagert hat. Unser Wissen über die Natur ist heute nunmehr eindeutig ein praktisches. Gilt wohl dasselbe von unserem Wissen über Gesellschaft und Kultur? Ist wohl noch immer zeitgemäß, was Friedrich Nietzsche sagte Anfang der 1870er Jahre im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen  – "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" –, daß nämlich der moderne Mensch tote Bildung mit sich schleppt, daß wir "wandelnde Enzyklopädien" sind, aber kein anwendbares, lebendiges Wissen besitzen? Bietet wohl die heutige ungarische Gesellschafts- und Geisteswissenschaft ein praktisches Wissen? Ich traue mich nicht, diese Frage zu beantworten – meine aber, daß zumindest die an der Universität Allen Wissens gehaltenen Vorträge durchaus zeitgemäß und lebensnah anmuten: aus dem Programm des jetzt endenden Semesters erinnere ich an Gábor Pallós Vortrag über geniale ungarische Wissenschaftler, an András Sajós Vortrag über den Sinn bzw. über die Unzweckmäßigkeit der Strafe, und vor kurzem an Ádám Nádasdys Vortrag über Wandlungen in der Sprache. Und ich hoffe, daß der von mir gehaltene jetztige philosophische Vortrag, bei dessen Zusammenfassung ich nunmehr angelangt bin, ebenfalls lebensnahe wirkt.
 

VI. ENZYKLOPÄDISCHES PRAKTISCHES WISSEN
– NEUE INTERDISZIPLINARITÄT

Verstehen wir unter Wissen ein rein theoretisches Wissen, so kann ein allseitiges, enzyklopädisches Wissen in der Form von überschaubarem, in einem einzigen Geiste zusammengefaßtem Wissen im 21. Jahrhundert offenbar nicht geben. Wir haben indessen Anlaß zur Annahme, daß die Welt des Wissens an sich eine zusammenhängende ist, daß sie keine voneinander durch undurchlässige Grenzen getrennte Teile aufweist, und daß Landkarten des Wissens zu erstellen sind, die diese Annahme in der Tat bekräftigen. In meiner Einleitung stellte ich die Frage, ob wir, wenn auch nicht auf der Ebene der Theorie, aber immerhin in der Welt der Praxis, uns auf unsere Instrumente verlassend, ein allseitiges Wissen besitzen können? Die Antwort: ein allseitiges Wissen nicht, aber ein weites Wissen durchaus. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist von Instrumenten umgeben, in welchen sich ein riesiges interdisziplinäres Wissen verkörpert, und welche die praktische Anwendung dieses Wissens für den einzelnen Menschen ermöglichen. Erlauben Sie mir, zum Abschluß zwei Beispiele anzuführen. Das erste: Bauplanung mit Hilfe eines Computerprogramms. Das Programm erleichtert wesentlich die Arbeit des Fachmannes; ermöglicht aber auch dem Laien – und dies ist eine grundlegende Wende –, das Haus seiner Träume zu Papier zu bringen. Software schreiben kann er nicht, bei chip denkt er an Pommes frites, darstellende Geometrie hat er nie gelernt, aber sieh mal! hier ist das Gebäude. Mein zweites Beispiel ist das eingangs erwähnte Mobiltelefon. Es gibt kaum eine Natur- oder technische Wissenschaft, deren Ergebnisse nicht in diesem winzigen Gerät verkörpert wären, wobei freilich das Wissen der Sprachwissenschaft, der Soziologie, des Designs usw. ebenfalls ins Spiel kommen. Das Mobiltelefon ist nicht allein das allwissende Gerät der gesellschaftlichen Kommunikation,5 sondern auch ein Gerät, durch dessen Verwendung der Einzelne einen riesigen Teil des gesellschaftlichen Gesamtwissens benützt. Enzyklopädie in der hohlen Hand.

© 2003 Kristóf Nyíri


ANMERKUNGEN

1 Richard Yeo, Encyclopaedic Visions: Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture (2001).

2 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.

3 Antonio R. Damasio, Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (1994).

4 Übrigens ganz wie im Deutschen, wo ja "begreifen" natürlich auf "greifen, berühren, betasten, anfassen" zurückgeht, "wissen" ursprünglich "gesehen haben" bedeutet, und "denken" ("dünken") so viel heißt wie "den Anschein haben, vorkommen".

5 Unter dem Titel Kommunikation im 21. Jahrhundert koordiniert das Forschungsinstitut für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der ungarischen Telekommunikationsfirma WESTEL ein einschlägiges, interdisziplinäres und internationales Forschungsprogramm, in dessen Rahmen bisher sieben Sammelbände erschienen sind.